Michael von nebenan
Unscheinbar lebt er am Ende der Straße. Jeder kennt ihn und hat bisher seine besonderen Erfahrungen mit ihm gemacht. Man redet nicht über ihn, aber alle beschäftigen sich mit ihm in besonderer Weise. Was er eigentlich tut, niemand weiß es. Wovon er lebt, niemand hat eine Ahnung. Aber alle wissen, wenn es schwierig wird, ist er da. Untereinander reden sie nicht darüber. Jeder hütet sein Geheimnis.
Michael steht vor der Tür und bittet um Einlass. Er weiß, die alte Oma hatte eine schlimme Nacht. Er hält eine Blume in der Hand. „Ich will sie besuchen“, sagt er und hält die Hand der Alten lange in seinen Händen – und geht wieder.
Zu Anfang waren die Leute in der Straße sehr verwundert. „Woher weiß er, was mit uns los ist?“ fragten sie sich. Aber mittlerweile haben sie sich an ihn und seine Überraschungsbesuche gewöhnt. Manchmal – wenn sie es besonders nötig haben – wünschen sie ihn herbei. Und dann steht er unvermittelt da. Wie vom Himmel gefallen. Dann zieht er eine Karte, einen Zettel aus der Tasche. „Halte durch“, „Sei gut behütet“, „Gib nicht auf, ich bin bei dir“, steht darauf, oder nur einfach „Fürchte dich nicht“. Mehr nicht. Es trifft die Menschen in der Straße mitten ins Herz. Wohltuend, versteht sich. Sie sind mit Michael innerlich sehr verbunden, obwohl sie so wenig von ihm wissen. „Du bist wirklich ein Engel“, sagen sie ihm ab und zu. Dann lächelt er wissend und strahlt. Manchmal sehen sie ihn lange Zeit nicht. Obwohl sie ihn ersehnen, erscheint er nicht. Gefragt, wo er denn gewesen sei, antwortet er mit seinem tiefgründigen Lächeln: „Es gibt doch noch mehrere Straßen als nur die unsere.“ Sie verstehen es nicht ganz, was er meint, fragen aber nicht nach. Es wird sein Geheimnis bleiben.
Neulich nachts sah man ihn mit einer brennenden Kerze durch die Straße eilen. Er schützte die Flamme vor Regen und Wind und brachte sie heil ins Haus seiner lieben Alten. „Ich komme“, sagte er, „um sie zur letzten Ruhe zu geleiten.“ Die Kinder nickten. Sie hatten schon auf ihn gewartet.
Uwe Seidel